Feuilleton

Was ist eigentlich die Zukunft?

Dr. Frank Piontek, Kulturpublizist - 17.5.2024

Die Antwort fällt nicht schwer: „Zukunft in räumlichem sinne herankunft, ankunft, war die herrschende anwendung im mittelhochdeutschen und auch noch im 16., selbst anfang des 17. jahrhunderts. Spätere lexikalische erwähnungen beziehen sich auf die kirchliche formel, in welcher sich die sonst veraltete bedeutung bis ins 19. jahrhundert erhalten hat. Diese hat wohl auch in späterer zeit die verwendung des wortes für ankunft veranlaszt: man erinnere sich nur, auf wie viele hundert arten die anbrechung des tages und die zukunft der nacht von den alten und neuen poeten vorgestellet worden.“ So liest’s man in Grimms Deutschem Wörterbuch. „Räumliche herankunft oder ankunft“, auch im Sinn von „Heimkehr“, dann auch verstanden als etwas „Drohendes, Feindliches“ – mit einem Wort: „Zukunft ist der auf die Gegenwart als folgend gedachte Zeitraum“.

Ankunft, Heimkehr, Bedrohliches, das was kommt: all das ist Zukunft. Wenn das Festival junger Künstler 2024 den durchaus vielschichtigen Begriff zum Titelmotto macht, begreift man sofort, wie das Eine mit dem Anderen zusammenhängt: die Hoffnung (auf Gutes) und die Furcht (vor Veränderungen). Wir sind ja mitten drin in diesem Transformationsprozess, der uns – schlimmer noch, als wir es im Sommer 2023 ahnen mochten oder wollten – beim Nächstliegenden erwischt hat. Ob wir wollen oder nicht: wir müssen die Wandlungen akzeptieren, um selbst, wenn’s glückt, mit unseren künstlerischen Mitteln in sie einzugreifen. Wir müssen selbst an der Zukunft arbeiten, indem wir in der Gegenwart zwischen „reiner“ Kunst, die es nicht geben kann, und gesellschaftlicher Verantwortung zu agieren.

Das Festival junger Künstler hat seit 74 Jahren am Zukunftsprojekt gearbeitet, indem es Tradition und Innovation, oder anders: Überlieferung und Veränderung, ineins gesetzt hat: in der Begegnung von Menschen und Kulturen, Musik und Kommunikation, Bewahrung und Aufbruch. Um es pathetisch auszudrücken: Man hat gar keine andere Chance, die Zukunft der Welt zu retten, als miteinander zu reden oder / und im musikalischen Gespräch miteinander in Kontakt zu kommen. Auch in diesem Jahr wird das Lost (in) Nature-Projekt auf die Fragilität der Natur hinweisen, werden Sängerinnen und Sänger aus sog. Problemregionen (aber welche Region wäre heute nicht problematisch?) zusammenkommen, um ihre sog. klassische oder nicht-klassische Musik buchstäblich unters sog. Volk zu bringen: bei freiem Eintritt, also besonders viel Teilhabe ermöglichend. So vermag Kunst zur Politik zu werden, ohne ihr die Freiheit des puren Bei-sich-Seins zu rauben. Neue Medienformate, die Herausforderungen der KI, alte Werke und ihre jeweils gegenwärtige Interpretation: all das ist schon Teil eines Kommenden im Heute. Wie lange dauert die Gegenwart? Psychologisch gesehen nur 2,3 Sekunden …

Seit 1950 kommen junge Leute aus aller Welt in Bayreuth zusammen, um gemeinsam zu musizieren. In den letzten Jahren wurden dramaturgische Gewichte ins Geflecht der Programme eingezogen; erinnert sei an die Orient meets Occident-Ereignisse und, in den letzten Jahren, die Integration zumal der ukrainischen und turkmenischen Musiker und Musikerinnen ins Festivalprogramm. In diesem Jahr wird eine kulturell ungeheuer reiche und vielfältige Region in einem der Mittelpunkte des Festivals stehen, die lange nur als exkoloniales Relikt wahrgenommen wurde: Lateinamerika. Eine in Bayreuth lebende Künstlerin aus Mexiko wird, und auch dies gehört zur zukunftmachenden Künstlerförderung, Artist in Residence sein. Sie ist zugleich Sängerin und Instrumentalistin, die sich im „Klassischen“ wie im „Populären“ ihrer Heimat glänzend auskennt. Mehr Cross-over geht kaum; am 2. Juni wird Claraliz Mora zusammen mit ihrem Mann, dem Bassisten Oliver Pürkhauer, das Festival schon mal vorab eröffnen.

Kann Kunst, kann schöne und bewegende, „hässliche“, aber wahre Musik die Zukunft der Welt retten? „Die anbrechung des tages und die zukunft der nacht“: All das ist und vermag Zukunft zu sein. Das Festival junger Künstler kann auch in diesem Jahr dafür sorgen, für vier lange Wochen Zustände zu befördern, die die Welt ein bisschen reicher machen und das Bewusstsein für das Wahre, Gute und Schöne – und die Sensibilisierung für deren Gegenteil – schärfen. Nicht mehr – aber auch nicht weniger.

Wie der bayerische Dichter und Denker Herbert Achternbusch, der vor über 50 Jahren Teilnehmer des Jugendfestspieltreffens war, einmal so schön sagte: Du hast keine Chance, also nutze sie.